Portfolio

Über Unsichtbarkeit

Es gibt Dinge, die unsichtbar sind. Unter dem Wort „Baum“ oder „Schraubenzieher“ können sich die meisten ganz konkrete Dinge vorstellen. Begriffe wie „Zuhause“, „Familie“, „Sterben“ oder „Zeit“ sind dagegen viel abstrakter und ihnen entspricht kein Objekt. Auch wenn ein Zuhause ein konkreter Ort sein mag, ist es doch eher ein Gefühl. Anna Gohmerts Arbeit geht abstrakten Begriffen dieser Art nach und findet Möglichkeiten der Erfahrbarkeit durch das Aufspannen ganz unterschiedlicher Perspektiven. Beim Berühren, beim Betrachten und beim Zuhören ihrer Arbeiten wird klar, dass es im Kern um eine spezifische Form des Nicht-Offensichtlichen geht, das sich der konkreten Sichtbarkeit entzieht: das Soziale. Und Beziehungen – sei es die Beziehung untereinander oder Beziehung zu Dingen – , das macht Anna Gohmerts Arbeit immer wieder deutlich, können wir nicht sehen, aber es gibt Möglichkeiten, wie eine persönliche Beziehung zu jemandem oder zu etwas für andere erfahrbar gemacht werden kann. Das kann die Beziehung zu einem Alltags-Objekt sein wie beim partizipativen Projekt Das ist (ja) voll mein Ding oder die Beziehung zum Lebensende, das auch immer die Frage nach der Beziehung zum Leben beinhaltet, in Sterben Üben - Das Leben als 5-Akter. Das kann das Beziehungsgeflecht Familie sein, wie beim Projekt Gescheite(rte) Familienplanung oder Lebendige Steine, die beide auf unterschiedliche Weise Strukturen familiären Zusammenhalts und das Selbstverständnis von Familie generell befragen. Auch die Arbeit Die Mineraliensammlung meines Vaters Willst du mit mir gehen □ ja □ nein □ vielleicht verhandelt das Thema Familie im erweiterten Sinne und thematisieren implizit, wie ein Erbe intergenerational weitervermittelt, übertragen, übergeben, besprochen, inszeniert oder in vertrauensvolle Hände gegeben wird. Fürsorge und Caringstructures, die auch Teil familiären Selbstverständnisses sind, werden wiederum in der Arbeit Lebendige Steine behandelt. Anna Gohmert züchtete für diese Arbeit Kristalle und umsorgte sie so, dass sich ein wachsender Kristallrasen mit blühenden Alaunkristallen entwickeln konnte. Kristalle sind nur eine von zahlreichen Materialüberstzungen, die Anna Gohmert in ihren Arbeiten findet und damit Abstraktes erfahrbar und diskutierbar macht, weil es greifbarer und konkreter wird. Denn in der Regel kann man eine Beziehung zu jemandem oder etwas nicht sehen, sie ist kein Objekt, das sich mit Blicken oder Händen ertasten ließe oder einen bestimmten Sound macht, wenn man dagegen klopft oder darüberstreicht. Wenn schon nicht sichtbar, hörbar oder tastbar, dann sind die Beziehungen, die wir zur Welt, die uns umgibt, haben, aber dennoch spürbar. So sind auch die Formen, die Anna Gohmert wählt, um das Soziale erfahrbar machen, ganz unterschiedlich und beschränken sich nicht aufs Visuelle. Erst durch die Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven, Positionen und Materialien wird ein abstrakter Begriffskomplex in seiner Vielschichtigkeit und Vielfarbigkeit erfahrbar. Anna Gohmert versammelt diese unterschiedlichen Perspektiven auf ein abstraktes Thema und macht sie Besucher*innen als sinnliche Übersetzungen in Material zugänglich. Dieses Material ist so vielseitig wie die Perspektiven, die es übersetzt: Von Audiomaterial im O-Ton über filmisches Material, Textilien, 3-D geprintete Objekte, die als Tastmodelle dienen bis zu Fotografien, Glasobjekten und gezüchteten Kristallen.

Judith Engel, März 2024

On Invisibility

Some things are invisible. For most people, the words “tree” or “screwdriver” conjure up very concrete things. Terms like “home,” “family,” “dying,” or “time,” on the other hand, are much more abstract and do not correspond to an object. Though home may be a concrete place, it is more of a feeling. Anna Gohmert’s work explores such abstract concepts and finds ways to experience them by spanning very different perspectives. When you touch, see, and listen to her work, it becomes clear that at its core it is about a specific form of the non-apparent that eludes concrete visibility: the social. And as Anna Gohmert’s work repeatedly makes clear, relationships – be they relationships with each other or with things – cannot be seen, but there are ways in which a personal relationship with someone or something can be made tangible for others. This can be the relationship to an everyday object, as in the participatory project Das ist (ja) voll mein Ding (That’s (totally) my thing), or the relationship to the end of life, which always includes the question of the relationship to life, as in Sterben Üben – Das Leben als 5-Akter (Learning to Die – Life in 5-Acts). This can be the network of family relationships, as in the projects Gescheite(rte) Familienplanung ((In)effective family planning) or Lebendige Steine (Living stones), both of which examine structures of family cohesion and the self-understanding of family in general in different ways. The piece Die Mineraliensammlung meines Vaters Willst du mit mir gehen □ ja □ nein □ vielleicht (My father’s mineral collection Do you want to go with me □ yes □ no □ maybe) also deals with the theme of family in a broader sense and implicitly addresses how an inheritance is passed on intergenerationally, transferred, handed over, discussed, staged, or placed in trustworthy hands. Care and caring structures, which are also part of a family’s self-understanding, are in turn addressed in the work Lebendige Steine. For this piece, Anna Gohmert cultivated crystals and tended to them in such a way that a growing crystal lawn with blooming alum crystals could develop. Crystals are just one of the many material translations that Anna Gohmert uses in her works to make the abstract perceptible and discussable by making it more tangible and concrete. After all, you generally cannot see a relationship to someone or something; it is not an object that can be explored with your eyes or hands, or that makes a certain sound when you tap it or stroke it. Even if we cannot see, hear, or feel them, the relationships we have with the world around us can still be felt. Thus, the forms that Anna Gohmert chooses in order to make the social tangible are also highly versatile and not limited to the visual. It is only through the multiplicity of different perspectives, positions, and materials that an abstract set of concepts can be experienced in all its complexity and colorfulness. Anna Gohmert brings together these different perspectives on an abstract theme and makes them accessible to the public as sensual translations into material. This material is as diverse as the perspectives it translates: from original audio to film, textiles, 3D-printed objects that serve as tactile models, photographs, glass objects, and cultivated crystals.

Judith Engel, März 2024